Saal der Ostgiebelgruppe des Tempels von Ägina
Die Giebelfiguren des Aphaia-Tempels von Ägina (um 500/490–490/480 v. Chr.) zählen zu den berühmtesten und schönsten griechischen Marmorskulpturen. 1811 ausgegraben, gehören sie seit 1827 zum kostbarsten Besitz der Münchener Glyptothek. Die sogenannten Ägineten zeigen die beiden Trojanischen Kriege: Griechen und Trojaner sind hier in heftige Kämpfe miteinander verwickelt. Die Schutzgöttin der Griechen, Athena, steht in beiden Giebeln majestätisch in der Mitte. Die Ostgiebelgruppe über dem Eingang zum Tempel stellte die erste Eroberung Trojas durch Telamon und Herakles dar. König von Troja war damals Laomedon. Ihn und alle seine Söhne außer Priamos erschoss Herakles mit seinem Bogen.
Der Ostgiebel des Aphaiatempels von Agina gehört bereits in klassische Zeit. Um dies zu verstehen, genügt ein kurzer Blick auf den sterbenden Krieger in der linken Giebelecke (XI). Wie der Sterbende des Westgiebels wurde er von einem Pfeil in die Brust getroffen. Doch ist bei ihm die Kraft den Gliedern schon weitgehend entwichen. Sein Oberkörper und sein Kopf sind nicht aufgerichtet und dem Betrachter zugewandt, sondern zu Boden gedreht. Er stirbt einsam, ist ganz bei sich. Der linke Arm rutscht bereits aus dem Bügel des senkrecht aufgestellten Schildes, während die Rechte das Schwert krampfhaft umfasst und sich mit letzter Kraft in die Höhe stemmt. Schon im nächsten Augenblick wird der Schild krachend niedersausen und das Haupt des Kriegers unter sich begraben.
Beim Sterbenden in der linken Ecke des Ostgiebels handelt es sich um den Trojanerkönig Laomedon, der eine Generation vor dem homerischen Kampf um Troja über die Stadt herrschte. Laomedon hatte gegen die Götter gefrevelt. Die schickten ein Meerungeheuer, das die Bevölkerung terrorisierte. Erst Herakles, der größte aller Heroen, vermochte das Monster zu überwältigen. Auch ihn beleidigte Laomedon, da er ihm den Lohn für die Rettungstat versagte. Herakles scharte daraufhin eine Gruppe von Helden um sich, zu der auch Telamon und Peleus, die Väter der im Westgiebel dargestellten Aias und Achill gehörten. Gemeinsam eroberten sie die Stadt, wobei Herakles den treulosen König tötete.
Der planende Künstler des Ostgiebels konnte bei seinen Arbeiten nur das Ziel haben, die geniale Komposition des Westgiebels noch einmal zu übertreffen. Dabei ist zu beachten, dass die antike Kunst – anders als die Moderne – nicht hauptsächlich auf Originalität und Andersartigkeit aus war. Ihr höchstes Ethos lag vielmehr darin, die Vorbilder der Vergangenheit zunächst technisch wie künstlerisch zu erreichen, um sie dann in einem zweiten Schritt hinter sich zu lassen.
In welch souveräner, ja überragender Manier dies bei der Gestaltung der Ostgiebelgruppe gelang, offenbart sich dem Betrachter, wenn er die Skulpturen eingehend betrachtet. Zunächst scheint alles wie gehabt: Wieder steht Athena im Zentrum des Bildes (I). Von ihr weg kämpfen abermals zwei griechische Heroen, von denen nur der rechte erhalten ist (Il), der linke aber sicher ergänzt werden kann (VII). Diese Vorkämpfer müssen in Analogie zu den Helden vom Westgiebel, Aias und Achill, als deren Väter Telamon und Peleus identifiziert werden. Ihre trojanischen Gegner (III und Vill) sind auch hier bereits be-siegt und brechen in die Knie, obwohl ihnen jeweils ein Kamerad (IV und IX) helfend zur Seite springt – vergeblich
Neben den zentralen Dreiergruppen kniet ein weiteres Mal je ein griechischer Bogenschütze, links nur fragmentarisch (X), rechts fast vollständig erhalten (V). Es scheint, als sei das Bildschema des Westgiebels getreu kopiert. Doch durch eine simpel wirkende Änderung kommt es zu einer kühnen Umwand-
lung der Komposition: Die Bogenschützen sind nicht mehr nach außen gewendet und erschießen auf kurze Distanz einen Gegner.
Vielmehr haben sie über die Mitte hinweg ihren Feind in der gegenüberliegenden Ecke (VI und XI) tödlich getroffen. Der erzielte Effekt könnte größer nicht sein. Zum einen wird auf diese Weise das Geschehen ganz im Sinn der Klassik realitätsnäher und damit ernsthafter und dramatischer, zum anderen werden die beiden Giebelhälften eng miteinander verklammert.
Ein Blick auf die inhaltliche Deutung des Bildes offenbart vollends die Meisterschaft dieses Entwurfs: Der nahezu unversehrte
Bogenschütze rechts trägt einen Löwenskalp
über dem Haupt (V). In ihm können wir Herakles erkennen. Mit einem gezielten Fernschuss tötet er den Frevler Laomedon (XI). Dadurch wird er wie im Mythos zur Hauptperson der Handlung, ohne jedoch die Mitte des Giebelfeldes zu besetzen. Die Ehrenplätze neben Athena bleiben somit frei für die Ägineten Telamon und Peleus (Il und VII), die den Ruhm und den Rang der Insel Ägina eindücklich vor Augen stellen sollen.
Der planende Künstler des Ostgiebels konnte bei seinen Arbeiten nur das Ziel haben, die geniale Komposition des Westgiebels noch einmal zu übertreffen. Dabei ist zu beachten, das die antike Kunst – anders als die Moderne – nicht hauptsächlich auf Originalität und Andersartigkeit aus war. Ihr höchstes Ethos lag vielmehr darin, die Vorbilder der Vergangenheit zunächst technisch wie künstlerisch zu erreichen, um sie dann in einem zweiten Schritt hinter sich zu lassen.
Funde aus dem Heiligtum von Ägina
Bei den Grabungen am Aphaiatempel in Ägina stieß man auf eine große Zahl von Fragmenten der einstigen Giebelgruppen. Die meisten von ihnen lassen sich zwar mit großer Sicherheit einer bestimmten Figur zuweisen, doch ist mangels anpassender Stücke eine Montage im Giebelzusammenhang oft nicht möglich.
Neben den Skulpturen des Ost- und des Westgiebels wurden im Tempelareal außerdem noch weitere Fragmente von Marmorstatuen gefunden, die stilistisch den älteren, archaischen Westgiebelfiguren entsprechen. Sie gehörten zu Gruppen, die auf zwei langen Postamenten seitlich des Brandopferaltars im Osten vor dem Tempel standen (s. Modell und Plan des Heiligtums in diesem Saal). Es wurde vermutet, diese Statuengruppen seien ursprünglich als Schmuck des Ostgiebels geplant gewe-sen, dann aber durch die bereits klassischen Ostgiebel-figuren ersetzt worden. Als Eigentum der Göttin stellte man sie jedenfalls spätestens nach der Vollendung des Tempels auf dem Altarplatz des Heiligtums auf.
Zwei Gruppen lassen sich thematisch nachweisen: Eine Gruppe mit dem Raub der Nymphe Agina durch Zeus und eine Kampfgruppe, die vielleicht auch die erste Eroberung von Troja durch Herakles und seine Mitstreiter Telamon und Peleus illustrierte.
Aus dem Aphaiatempel selbst stammen einige Aufsehen erregende Funde, die die Bedeutung des Heiligtums bis in die Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus belegen.
Original und Nachahmung
Der archaische Stil dieser Skulpturen war für die an klassischen Bildwerken geschulten Künstler des frühen 19. Jahrhunderts etwas völlig Neues Wagner und Thorvaldsen schien es seltsam, dass die nackten Körper der Agineten „die treueste Nachahmung der Natur“ zeigen, während „die Köpfe, Haare und Gewänder auf eine konventionelle, den altgriechischen Werken eigentümliche Weise behandelt sind.“ So wollte Thorvaldsen gerne einer Figur einen „kunstgerechten“, d. h. in klassizistischem Stil gebildeten Kopf aufsetzen Der Kronprinz bestand jedoch auf einer möglichst originalgetreuen Ergänzung
Die Arbeitsweise Thorvaldsens war folgende: Er arbeitete nicht vor den Originalen, sondern erhielt einen Gipsabguss des zu ergänzenden Torsos und dazu den Abguss eines originalen Kopfes einer anderen Figur, der ihm als Vorbild für den zu schaffenden Kopf diente. Er modellierte nun in Ton seine Ergänzungen an den Abguss des Tor-sos. Anschließend wurden diese in Gips geformt. Auf dem so hergestellten Gipsmodell der Ergänzung markierte man zahlreiche Messpunkte, nach denen ein Steinbildhauer eine genaue Kopie in Marmor ausführte
An den Fotos lässt sich gut erkennen, wie Thorvaldsen den archaischen Stil nachzubilden versuchte. Die von ihm als erste ausgeführte Kopfergänzung (oben links) zeigt noch ein ängstliches Streben nach getreuer Nachahmung. Später verwandte er die als charakteristisch erkannten Einzelformen des archaischen Stils freier. Dabei wird jedoch die „klassizistisch“ geprägte Handschrift des Künstlers immer offenbarer.
Thorvaldsens Zeitgenossen konnten dies noch nicht erkennen. Er selbst soll den bewundernden Besuchern auf die Frage, welche Köpfe antik und welche von ihm ergänzt worden seien, geantwortet haben: „Gemerkt habe ich sie mir nicht und herausfinden kann ich sie nicht.“