Westgiebel des Tempels von Ägina

Der Künstler, der den Westgiebel des Aphaiatempels von gina konzipierte, stand vor einer doppelten Herausforderung: Zum einen musste er das naturgemäß unübersichtliche, ja wirre Durcheinander eines heftigen Kampfgetümmels für den Betrachter klar lesbar machen. Zum anderen war dabei der speziellen Raumvorgabe eines Giebelfeldes mit seinem dreieckigen Aufbau Rechnung zu tragen. Beide Probleme löste der Bildhauer mit Bravour.

In der Mitte steht in voller Rüstung Athena, die kriegerische Schutzgöttin der griechischen Helden (I). Mit ihrer Unterstützung kämpfen zu beiden Seiten zwei Heroen gegen trojanische Feinde, von denen nur Teile der Beine erhalten sind. Der auf der linken Seite von Athena weg agierende Krieger (IX) hat ein Schildzeichen, das einst mit Farbe aufgemalt war und auch heute im Verwitterungsrelief noch schwach erkennbar ist. Es zeigt einen Adler mit Schlange im Schnabel.

Der Krieger kann deshalb als der Held Aias identifiziert werden. Bei dem anderen Griechen (I1) muss es sich wegen seiner Ehrenstellung rechts von Athena um Achill, den berühmtesten griechischen Helden handeln. Aias und Achill kämpfen in weitem Ausfallschritt, so dass sie kleiner als Athena sind und sich problemlos in das zu den Seiten hin niedriger werdende Bildfeld einfügten. Noch etwas kleiner waren ihre Gegner dargestellt (X und IIl): Am rechten Bein des von Achill attackierten Trojaners (III) wird noch erkennbar, dass er bereits bezwungen ist und ins Knie bricht.

Auf die beiden mittleren Zweikämpfe folgen zu den Giebelecken hin zwei weitere, diesmal aus jeweils vier Figuren gebildete Kampfgruppen. Sie bestehen aus je einem griechischen Bogenschützen (XI und IV), einem Lanzen- oder Schwertkämpfer, der ebenfalls Grieche ist (XII und V), und zwei gefallenen Trojanern (XIII/XIV und VI/VII). Rechts fehlt der zweite Gefallene (VI) heute zwar, er war aber in der Antike vorhanden. Die hockenden, vorgebeugten und in verschiedener Schräglage auf den Boden gestreckten Körper passen sich ebenfalls treffend in den dreieckigen Giebelraum ein. Bei dem linken Bogenschützen, der mit Lederkappe und elastischen Hosen bekleidet ist (XI), haben wir es vermutlich mit Teukros, dem Bruder des ganz in seiner Nähe kämpfenden Aias zu tun.

Wenn man die Komposition noch einmal im Ganzen überblickt, muss man neben der Figurenstaffelung die Klarheit bewundern, mit der der planende Künstler das Bild strukturierte: Der Aufbau mit jeweils zwei Kampfgruppen neben der zentralen Athena ist streng symmetrisch und leicht lesbar. Dennoch erfährt die Darstellung durch die gegenläufig zu den Seiten gewendeten Figuren eine ungeheure Belebung. Stellt man sich die Skulpturen mit wenigen intensiven Farben gefasst vor, so dürfte die Dramatik des Geschehens noch wesentlich gesteigert gewesen sein.

Immer bleibt aber deutlich: Die Griechen siegen, die Trojaner unterliegen. Die gezeigten griechischen Helden Achill, Aias und Teukros gehören schon bei Homer zu den bestimmenden Protagonisten des Trojanischen Krieges – und sie stammen alle aus Ägina!
Klarer und wirksamer als an diesem Monument hätten die Ägineten ihren Machtanspruch kaum formulieren können.
Der Stil der Figuren ist noch ganz und gar archaisch. Das kann man schön an dem Gefallenen in der rechten Giebelecke sehen (VII).
Sterbend zieht er sich einen Pfeil aus der Brust. Doch ist an seiner Körperhaltung davon nichts spürbar: Er präsentiert sich dem Betrachter, sein Körper steht noch unter voller Spannung und Lebenskraft, die Glieder sind hochaufgerichtet, der Blick weist aus dem Bild. Nicht um die Darstellung des Todes, sondern um die eines lebendigen, beweglichen Menschen geht es dieser Kunst.

Published On: April 18th, 2018Categories: GlyptothekTotal Views: 68Daily Views: 1

Super - diesen Beitrag teilen!

Leave A Comment