Die Ostgiebelgruppe über dem Eingang zum Tempel stellte die erste Eroberung Trojas durch Telamon und Herakles dar. König von Troja war damals Laomedon. Ihn und alle seine Söhne außer Priamos erschoss Herakles mit seinem Bogen.
Der Ostgiebel des Aphaiatempels von Ägina gehört bereits in die klassische Zeit. Um dies zu verstehen, genügt ein kurzer Blick auf den sterbenden Krieger in der linken Giebelecke (XI). Wie der Sterbende des Westgiebels wurde er von einem Pfeil in die Brust getroffen. Doch ist bei ihm die Kraft den Gliedern schon weitgehend entwichen. Sein Oberkörper und sein Kopf sind nicht aufgerichtet und dem Betrachter zugewandt, sondern zu Boden gedreht. Er stirbt einsam, ist ganz bei sich. Der linke Arm rutscht bereits aus dem Bügel des senkrecht aufgestellten Schildes, während die Rechte das Schwert krampfhaft umfasst und sich mit letzter Kraft in die Höhe stemmt. Schon im nächsten Augenblick wird der Schild krachend niedersausen und das Haupt des Kriegers unter sich begraben.
Beim Sterbenden in der linken Ecke des Ostgiebels handelt es sich um den Trojanerkönig Laomedon, der eine Generation vor dem homerischen Kampf um Troja über die Stadt herrschte. Laomedon hatte gegen die Götter gefrevelt. Die schickten ein Meeresungeheuer, das die Bevölkerung terrorisierte. Erst Herakles, der größte aller Heroen, vermochte das Monster zu überwältigen. Auch ihn beleidigte Laomedon, da er ihm den Lohn für die Rettungstat versagte. Herakles scharte daraufhin eine Gruppe von Helden um sich, zu der auch Telamon und Peleus, die Väter der im Westgiebel dargestellten Aias und Achill gehörten. Gemeinsam eroberten sie die Stadt, wobei Herakles den treulosen König tötete.
Der planende Künstler des Ostgiebels konnte bei seinen Arbeiten nur das Ziel haben, die geniale Komposition des Westgiebels noch einmal zu übertreffen. Dabei ist zu beachten, das die antike Kunst – anders als die Moderne – nicht hauptsächlich auf Originalität und Andersartigkeit aus war. Ihr höchstes Ethos lag vielmehr darin, die Vorbilder der Vergangenheit zunächst technisch wie künstlerisch zu erreichen, um sie dann in einem zweiten Schritt hinter sich zu lassen.
In welch souveräner, ja überragender Manier dies bei der Gestaltung der Ostgiebelgruppe gelang, offenbart sich dem Betrachter, wenn er die Skulpturen eingehend betrachtet. Zunächst scheint alles wie gehabt: Wieder steht Athena im Zentrum des Bildes (I). Von ihr weg kämpfen abermals zwei griechische Heroen, von denen nur der rechte erhalten ist (II), der linke aber sicher ergänzt werden kann (VII). Diese Vorkämpfer müssen in Analogie zu den Helden vom Westgiebel, Aias und Achill, als deren Väter Telamon und Peleus identifiziert werden. Ihre trojanischen Gegner (III und VIII) sind auch hier bereits besiegt und brechen in die Knie, obwohl ihnen jeweils ein Kamerad (IV und IX) helfend zur Seite springt – vergeblich.
Neben den zentralen Dreiergruppen kniet ein weiteres Mal je ein griechischer Bogenschütze, links nur fragmentarisch (X), rechts fast vollständig erhalten (V). Es scheint, als sei das Bildschema des Westgiebels getreu kopiert. Doch durch eine simpel wirkende Änderung kommt es zu einer kühnen Umwandlung der Komposition: Die Bogenschützen sind nicht mehr nach außen gewendet und erschießen auf kurze Distanz einen Gegner. Vielmehr haben sie über die Mitte hinweg ihren Feind in der gegenüberliegenden Ecke (VI und XI) tödlich getroffen. Der erzielte Effekt könnte größer nicht sein. Zum einen wird auf diese Weise das Geschehen ganz im Sinn der Klassik realitätsnäher und damit ernsthafter und dramatischer, zum anderen werden die beiden Giebelhälften eng miteinander verklammert.
Ein Blick auf die inhaltliche Deutung des Bildes offenbart vollends die Meisterschaft dieses Entwurfs: Der nahezu unversehrte Bogenschütze rechts trägt einen Löwenskalp über dem Haupt (V). In ihm können wir Herakles erkennen. Mit einem gezielten Fernschuss tötet er den Frevler Laomedon (XI). Dadurch wird er wie im Mythos zur Hauptperson der Handlung, ohne jedoch die Mitte des Giebelfeldes zu besetzen. Die Ehrenplätze neben Athena bleiben somit frei für die Ägineten Telamon und Peleus (II und VII), die den Ruhm und den Rang der Insel Ägina eindrücklich vor Augen stellen sollen.e
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