Charakterköpfe – Griechen und Römer im Porträt
Homer und Sokrates, Alexander der Große und Augustus, Cicero und Marc Aurel – jede dieser berühmten historischen Gestalten ist uns aus der antiken Geschichte wohl vertraut. Wir bewundern noch heute ihre Taten, wir lesen ihre dichterischen Werke, wir beschäftigen uns mit ihren philoso- phischen Schriften. Aus all dem können wir auch ein Charakterbild ihrer Persönlichkeit zeichnen. Doch steht uns noch ein weiteres Mittel zur Verfügung, sie näher kennenzulernen: ihr Porträt, das teils noch zu ihren Lebzeiten, teils aber auch erst später geschaffen wurde. Es gibt uns in vielen Fällen zweifellos einen Eindruck, wie der Dargestellte wirklich ausgesehen hat. Außerdem aber vermittelt es eine Vorstellung davon, welches Bild sich die antiken Menschen – Zeitgenossen oder auch Nachgeborene – von ihm machten; und, sofern er selbst der Auftraggeber war, welches Image er anstrebte. Antike Porträts können dem Betrachter also beispielhaft wichtige Fragestellungen vor Augen führen, die vielleicht heute aktueller denn je sind. Denn es geht hier schließlich um die Darstellung von Personen des öffentlichen Lebens im Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Angesichts solcher Bildnisse sehen wir uns stets den selben Fragen gegenüber, ohne das wir sie immer befriedigend, geschweige denn erschöpfend beantworten könnten: Wen stellt das Porträt dar?
Die wirklichkeitsnahe Darstellung menschlicher Gesichter zählt zu den großen Leistungen der antiken Bildhauerkunst. Erstmals wagten griechische Künstler in der frühklassischen Zeit des 5. Jahrhunderts v. Chr. den Schritt zum individualisierten Abbild historischer Persönlichkeiten. Staatsmänner und Feldherrn, Dichter und Denker, Lebende und Verstorbene wurden fortan in Porträts gezeigt, die freilich nie nur getreue Wiedergaben der Realität waren. Vielmehr boten sie durch Typisierung und Verwendung idealer Gestaltungselemente ein künstlerisch geformtes Bild der jeweiligen Person, das das Selbstverständnis des Auftraggebers vermitteln und den Geschmack des Publikums treffen sollte.
Strategen
Zu den frühesten Porträts griechischer Kunst gehörten die Bildnisse bärtiger Männer, die einen in die Stirn hochgeschobenen korinthischen Helm tragen. Man bezeichnet sie als Strategenporträts, hält sie also für die Bildnisse von Feldherrn, die in Athen oder einer anderen griechischen Stadt das Amt eines Strategen innegehabt haben.
Der Stratege erlangte im demokratischen Athen eine Bedeutung, die über die Rolle eines Feldherrn weit hinausging. In der Frühzeit hatte der Archon Polemarchos den Oberbefehl über die Streitkräfte. Seit 487/486 v. Chr. wurden nun die Archonten, die höchsten Staatsbeamten, durch das Los bestimmt. Eine so wichtige und existenzielle Aufgabe wie die militärische Führung wollten die Athener allerdings nicht dem Zufall überlassen, sondern in den Händen qualifizierter und erfahrener Männer wissen. Deshalb fiel die Lenkung der Streitkräfte fortan den zehn Strategen zu, die weiterhin von der Volksversammlung gewählt wurden.
Bereits in frühklassischer Zeit schufen griechische Porträtkünstler auch Bildnisse berühmter Dichter der Vergangenheit und der Gegenwart. Das älteste rundplastische Beispiel dieser Gattung ist das Porträt des Homer, der in der zweiten Hälfte des 8. Jh. v. Chr. gelebt hat. Mit seinen Werken, der Ilias und der Odyssee, nahm die Dichtkunst der Griechen ihren Anfang und erreichte gleich ihren unumstrittenen Höhepunkt.
Das Bildnis Homers, das erst rund 250 Jahre nach dem Tod des Dichters entstand und deshalb keinerlei Realitätstreue für sich beanspruchen kann, zeigt ihn als würdigen Greis mit welligem, ordentlich gekämmten Haupt- und Barthaar. Im Haar liegt ein Reif. Charakteristisch für den Dichter sind die schlaff über die Augäpfel hinabhängenden Lider, die seine Blindheit ins Bild setzen sollen. Damit verband man die Vorstellung einer besonderen Erinnerungsfähigkeit und einer tiefen inneren Einsicht ins Seelenleben des Menschen. Das Porträt zeigt uns nicht, wie Homer ausgesehen hat, sondern wie ihn sich die Griechen klassischer Zeit vorstellten. Der Dichter der berühmtesten Epen erscheint hier vornehm und gepflegt, nicht als gebrechlicher alter Mann. Lediglich die Stirnfalten und die leicht eingefallenen Wangen sind deutliche Spuren seines Alters. Den Mund hat er leicht geöffnet, als rezitiere er leise seine Verse.
Philosophen
In Athen, dem kulturellen Zentrum der griechischen Welt, entstanden in hellenistischer Zeit philosophische Schulen, die weltanschaulich ausgerichtet waren und sich in intensiver Weise mit der Formulierung ethischer Lebensregeln beschäftigten. Dazu gehörten vor allem die Lehren der Stoiker und der Epikureer.
Zenon (333-262 v. Chr.) gründete um 300 v. Chr. seine eigene Schule, die nach ihrem Versammlungsort in der Bunten Halle (Stoa poikile) auf der Agora den Namen Stoa erhielt. Seine Lehre war es, tugendhaft sein zu wollen und nicht seinen Begierden nachzugeben, sondern gelassen, eben „stoisch“ zu leben.
Bald übernahm Chrysipp (276-204 v. Chr.) die Leitung der Stoa. Den Zeitgenossen galt er als der größte Dialektiker, in der Argumentation allen anderen überlegen – das Messer, das die Knoten der Akademiker durch-schneidet. Er ist in seinem Porträt mit Glatze und ungepflegtem Bart wiedergegeben. Neben typischen Altersmerkmalen wie den tiefen Falten, Tränensäcken und Krähenfüßen gibt es ausgesprochen individuelle Züge wie die kleinen, tiefliegenden Augen sowie die hochgezogene rechte Braue. Chrysipp wirkt körperlich hinfällig, aber sehr konzentriert.
Eine ganz andere Geisteshaltung vertritt das Bildnis des Metrodor (330-277 v. Chr.), des Schülers und Vertrauten Epikurs (341-270 v. Chr.), der nach einem glückseligen Leben im Verborgenen strebte. Mit seinen ebenmäßigen Gesichtszügen und dem schönen, wohlgeordneten Bart-und Haupthaar erinnert es an das traditionelle bürgerliche Idealbild.
Die Reihe der sicher benennbaren Philosophenbildnisse beginnt mit dem Porträt des Sokrates. Der 469 v. Chr. geborene Athener scheint das Philosophieren gegen 430 v. Chr. aufgenommen zu haben. Es wird überliefert, das Orakel in Delphi habe geurteilt, kein Mensch sei weiser als Sokrates. Doch mit seinem unablässigen Fragen machte er sich auch Feinde unter den Mitbürgern, die ihn 399 v. Chr. wegen Gotteslästerung anklagten und zum Tode verurteilten.
Über das Aussehen des Sokrates sind wir vermeintlich gut unterrichtet. In den Schriften seiner Schüler Xenophon und Platon wird sein Äußeres beschrieben. Demnach hatte er vorquellende Augen, eine eingedrückte Nase, einen großen Mund und wulstige Lippen, ja man sagt, er habe wie ein Silen oder Satyr ausgesehen. So zeigt ihn auch ein erstes, drastisches Porträt aus den Jahren um 380 v. Chr. (Typus A), das später im Ausdruck etwas gemildert wurde (Typus B).
Das für griechische Betrachter betont hässliche Äußere steht in einem auffallenden Gegensatz zur Kalokagathia, dem damaligen Ideal der körperlichen und geistigen Vortrefflichkeit. Dagegen passt es gut zur Auffassung Platons (427-356 v. Chr.), in dessen Denken der Gegensatz von Schein und Sein eine zentrale Rolle einnimmt. Das Bildnis Platons selbst folgt hingegen ganz dem Idealbild eines attischen Bürgers seiner Zeit.
DIE PHILOSOPHIE KOMMT NACH ROM
Das Porträt des Philosophen Karneades (214-129 v. Chr.) zeigt einen älteren bärtigen Mann. Seine Stirn ist formelhaft in parallele Falten gelegt, die Augenbrauen sind hochgezogen. Man darf darin wohl eine „Denkerstirn“ erkennen. Andere Details, die lange Hakennase, Augenfältchen, geschwellte Adern an den Schläfen und vor allem der schief sitzende Mund sind dagegen unverwechselbare, individuelle Züge. Die weit geöffneten Augen verleihen dem Gesicht einen starken Ausdruck.
Karneades leitete fast 30 Jahre lang die von Platon gegründete Akademie. Der große Skeptiker hat keine Schriften hinterlassen, allein seine Schüler überlieferten seine Lehre. In Rom erregte er 155 v. Chr. großes Aufsehen, als er als Mitglied einer Philosophengesandtschaft an einem Tag zunächst eine Rede für die Gerechtigkeit hielt und am Folgetag dann dagegen argumentierte, um die Subjektivität der jeweiligen Überzeugungen deutlich zu machen. Plutarch und Cicero berichten von der außerordentlichen Wirkung, die der griechische Philosoph bei seinem Publikum erzielte.
Damit wurde auch die Begeisterung der Römer für griechische Philosophie, Dichtung und Kunst offenbar, die seit dem späten 3 Jahrhundert v. Chr. aufkeimte und sich in der Folge fast explosionsartig ausbreitete. Man rezipierte nun die Ideen der Stoa, der Epikureer und der skeptischen Akademie, man stellte Bildnisse der Hauptvertreter dieser Philosophen-schulen in den Villen und Gärten auf, und man stilisierte sich auch selbst als Philosoph.
Tragödiendichter
Unter den attischen Dramatikern des 5. Jahrhunderts v. Chr., die sich bei den alljährlichen Festen zu Ehren des Theatergottes Dionysos in Tragödienwettbewerben miteinander maßen, ragen drei Dichter heraus: Aischylos, Sophokles und Euripides galten schon der Antike als vorbildhaft. Der traditionsbewusste Athener Lykurg stiftete um 330 v. Chr. Statuen der Dichter und ließ ihre Werke in Abschriften sichern. Die Bildnisse waren an prominenter Stelle im Dionysostheater für alle Bürger sichtbar.
Der älteste der großen Drei, Aischylos (525-456 v. Chr.), errang 13-mal den Siegespreis bei den Dionysien. Sophokles (496-406 v. Chr.) war 24-mal bei den Dionysien siegreich. Den Zeitgenossen galt er als Liebling der Götter. Euripides (480–406 v. Chr.) hingegen war der Überlieferung nach ein mürrischer „Philosoph der Bühne“ mit aufklärerischen Ideen. Er lebte zurückgezogen und vernachlässigte sein Äußeres. Sein Bildnis im Typus Rieti verzichtet auf die drastische Wiedergabe von Alterszügen.
Ein heute namenloses Porträt (GL 303) muss einen bekannten Griechen darstellen: Der Mann trägt bis in den Nacken reichendes, ungepflegtes Haar, das in unregelmäßigen, verschlungenen Strähnen herabfällt und in der Stirn schütter wird. Auch das Barthaar ist ungeordnet. Die zusammengezogenen Brauen sind eine geläufige Chiffre für Nachdenklichkeit. Da wir keine deutlichen Kriterien für eine Scheidung von Dichtern und Philosophen besitzen, muss offen bleiben, welcher Berufsgruppe dieser Mann zuzuordnen ist.
Komödiendichter
Kein anderer Dichter der Antike ist so häufig dargestellt worden wie Menander (342-293 v. Chr.), der berühmteste Vertreter der Neuen Komödie. Das Bildnis zeigt den Poeten aus vornehmer athenischer Familie mit deutlichen Spuren des Alters, obwohl Menander bei seinem Tod gerade einmal 50 Jahre alt war: eingefallene Wangen, tiefe Nasolabialfalten, Krähenfüße, Tränensäcke. Die nicht mehr vollen Haare sind über der hohen Stirn sorgfältig frisiert. Als einer der ersten Dichter und Denker hat Menander von Alexander dem Großen die Bartlosigkeit übernommen.
Und auch die Bildung der Schläfenhaare erinnert an den charismatischen Makedonenkönig. Diese Attitüde scheint für den Komödiendichter keineswegs unpassend zu sein, galt er doch als ausgesprochener Lebemann, der bezeichnenderweise bei einem Badeunfall im Piräus ums Leben kam. Menander war einer der meistzitierten Autoren der Antike. Auf ihn geht auch der berühmte, vom Historiker Sueton mit alea iacta est falsch ins Lateinische übersetzte Ausspruch Julius Caesars zurück, als dieser im Griff nach der Macht am 10. Januar 49 v. Chr. mit seinen Truppen südlich von Ravenna den Rubicon, den Grenzfluss Roms, überschritt und damit der römischen Republik den Todesstoß versetzte: „Der Würfel soll geworfen sein!“